Henlein und das Scheitern des Autonomiewunsches

Dienstag,16.Oktober2012 von

Die sudetendeutschen Autonomiebestrebungen wurden lange wegen des im September 1938 verbreiteten Schlagwortes „Heim ins Reich“ nicht wahrgenommen. Dabei ist eine richtige Bewertung spätestens seit 1970 bzw. 1972 möglich, als das Tagebuch OLtn. Helmuth Groscurths erschien und seit der Nachlaß des britischen Geheimdienstlers Captain Malcolm Christie in den Archiven eingesehen werden konnte. Diese beiden Quellen veranlassten 1999 auch die Historiker Ralf Gebel („Heim ins Reich“) und Volker Zimmermann („Die Sudetendeutschen im NS-Staat“) zu einigen wichtigen Korrekturen am bisher verbreiteten Henleinbild.

Konrad Henlein im vorpolitischen Raum

Konrad Henlein (siehe Bild rechts) wird meist als Turnlehrer bezeichnet, der sich in die Politik verirrt hat. Damit will man seine Unbedarftheit und Inkompetenz andeuten. Henlein war aber schon sehr früh Mitarbeiter im “Arbeitskreis für Gesellschaftswissen- schaften“, den der Reichenberger RA Dr. Walter Hergl 1925 gegründet hatte. Eingeführt hatten ihn dort Heinz Rutha und der Spann-Schüler Prof. Walter Heinrich. Die Gruppe suchte nach Lösungen für die Sudetenfrage und reiste in die Schweiz (1925) und nach Belgien (1929), um dort das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitten zu studieren. In Belgien gibt es ja heute noch Schwierigkeiten im Zusammenleben von Wallonen und Flamen. Konrad Henlein nahm an der Reise in die Schweiz teil.
Im Jahre 1926 rief Heinz Rutha den „Kameradschaftsbund“ (KB) ins Leben und ließ ihn 1930 ins Prager Vereinsregister eintragen. Auch hier war Henlein dabei. Der KB war eine Vereinigung junger Menschen aus der Bündischen Jugend, die die Sudetendeutschen jenseits von Parteiengezänk und Klientelpolitik zu einer höheren politischen Einheit zusammenführen wollten. Insofern war er eine Absage auch an den Typ der herkömmlichen Honoratiorenpartei. Man sagte dem Bund rechtskatholische Tendenzen nach, doch ohne Zweifel war sein Hauptanliegen der Widerstand gegen die nationale Unterdrückung der Sudetendeutschen. Als theoretisches Rüstzeug betrachtete der KBie ständestaatlichen Theorien des Wiener Professors Othmar Spanns (sh. Bild links), in denen auch übervölkische Zusammenschlüsse nicht ausgeschlossen wurden. Ganz wesentlich für die politische Qualifikation Konrad Henleins war seine Verwurzelung im sudetendeutschen Turnwesen, denn den Turnern ging es früher nicht nur um Körperertüchtigung und Athletik, sondern auch um die völkische Erziehung. Zuständig für diese Arbeit waren die Dietwarte in den Vereinen, und man kann
voraussetzen, daß Henlein als früherer Dietwart und späterer Vorsitzender des Gesamtverbandes der Sudetendeutschen Turner klare Vorstellungen von dieser Aufgabe hatte. Der Dietwart war ja eine uralte Einrichtung in den österreichischen Turnvereinen seit ihrer Gründung 1862. Zur Erfüllung ihrer kulturellen Aufgabe legten sich die Vereine auch kleine Bibliotheken zu.

Henlein erwarb sich in seinem Amt als Turnverbandsführer große Popularität, namentlich bei den Verbandsturnfesten. Den Höhepunkt seines Ansehens erreichte er 1933 bei der Leitung des Verbandsturnfestes in Saaz.

Den Schritt vom Turner zum Politiker vollzog Henlein am 1. Oktober 1933 mit der Gründung der „Sudetendeutschen Heimatfront“ (SHF). Beim Aufbau der Parteiorganisation konnte er nicht nur auf die Freunde im Kameradschaftsbund zurückgreifen, sondern auch auf sein enges Beziehungsgeflecht unter den Turnern. Peinlich abschirmen mußte er sich hingegen gegen ehemalige Mitglieder der verbotenen Parteien DNSAP und DNP.

Das Programm der SHF

Für das Jahr 1935 stand (nach sechs Jahren) wieder eine Parlamentswahl an. Den Wahlkampf eröffnete Henlein praktisch am 21. Oktober 1934 bei einer Großkundgebung in Böhmisch Leipa.  Zehntausende Menschen (sieh Bild unten!) waren gekommen und hörten u.a., welche Vorbehalte die SHF gegen den Nationalsozialismus machte: „Nie werden wir auf die Liberalität, d.h. auf die vorbehaltslose Achtung der Persönlichkeitsrechte bei der Beziehung der Menschen im allgemeinen und zwischen Staatsbürgern und Behörden im besonderen verzichten“. Diese Worte hat Henlein nicht leichthin gesagt, sondern sie waren vier Wochen vorher, am 24. September 1934, in der Hauptvorstandsitzung der SHF eingehend beraten und beschlossen worden. Laut Protokoll sollte der Rede sofort intensive parteiinterne Schulungsarbeit gegen sezessionistische Tendenzen folgen. Das Protokoll vermerkt dazu: „Endgültiger Bruch mit der großdeutschen Idee. Aufräumen mit dem Gedanken, daß das sudetendeutsche Gebiet von Hitler von Deutschland aus erobert werden könnte (Kral, 71).

Im Klartext bedeutete dieses Programm, daß Henlein nach einer Autonomie-Lösung innerhalb der CSR suchte. Damit bewies er nicht zuletzt Loyalitt zu den in der CSR gültigen Gesetzen, denn das 1923 verabschiedete Gesetz zum Schutze der Republik erklärte den
Versuch, einen Teil des Staatsgebietes loszureißen, ausdrücklich zur Straftat. Überhaupt glich Henleins Unterfangen einem Ritt auf der Rasierklinge, denn das erwähnte Staatsschutzgesetz stellte auch die „politische Aufwiegelung“ unter Strafe und konnte damit praktisch jede kritische Stellungnahme zur Regierungspolitik unterbinden. Nur am Rande sei bemerkt, daß das Staatsschutzgesetz auch Untersuchungen über die Entstehung (!) des csl. Staates verbot. Offenbar fürchteten die Gesetzgeber die Wahrheit über das Zustandekommen ihres neuen Staates.

Henlein hatte aber durchaus auch einen egoistischen Grund, nur für die Autonomie einzutreten. Er musste fürchten, bei einem Anschluß die Bevormundung durch Prag nur gegen eine solche durch Berlin einzutauschen. Als Präsident eines autonomen Sudetenlandes hingegen hätte er mit Rückendeckung des Reiches in Prag sehr viel bewegen können. Wie begründet seine Befürchtungen waren, verriet bald nach dem „Anschluß“ sein Leitartikel in der SdP-Parteizeitung „Zeit“ unter der Überschrift „So haben wir uns die Befreiung nicht vorgestellt“. Übrigens wäre die Autonomielösung auch ein guter Schutz für die CSR gewesen, denn niemals hätte das Deutsche Reich einen Staat mit einer starken und vor allem zufriedenen deutschen Minderheit mit Wirtschaftsboykott oder Schlimmerem bekämpft (nachzulesen bei Paul Lamatsch!).

Anfeindungen aus Prag

Trotz aller Loyalität Henleins zur CSR hat die csl. Polizei dessen Parteigründung umfassend beobachtet. Die Geheim- polizei hatte sogar einen Informanten direkt in Henleins Nähe plaziert. Er hieß Le Groos und war ein deutscher Bank- angestellter. Trotz der Bespitzelung fanden die Behörden keine Anhaltspunkte für ein Doppelspiel und sahen von einem Verbot ab. Ohne Zweifel war Henlein durch seine große Popularität geschützt. Vielleicht fiel auch etwas ins Gewicht, daß Henleins Mutter Tschechin war. Dennoch hielt man aber Störmaßnahmen unterhalb der Verbotsschwelle für angebracht. Schon am 23. November 1933 wurde Dr. Walter Brand (siehe Bild rechts), neben Heinz Rutha wichtigster Mitarbeiter Henleins, unter dem Vorwand der Staatsgefährdung verhaftet. Er kam ins Prager Gefängnis Pankraz, wo er noch weitere Personen aus Henleins Führungsmannschaft antraf. Es waren dies Dr.Wilhelm Sebekovsky, Dr.Köllner, Ernst Kundt und Oskar Kuhn. Erst vier Monate später, am 15.3.1934, öffneten sich die Gefängnistore wieder. Ein Verfahren oder irgendeine Erklärung gab es nicht. Die Ausweispapiere wurden einbehalten. Mit Rechtsstaatlichkeit hatte das nichts zu tun.
Anfeindungen aus Berlin
Schwierigkeiten von tschechischer Seite hatte man einkalkuliert. Leider kamen aber auch Widerstände aus den eigenen Reihen und sogar aus dem Reich hinzu, so da Henlein gezwungen war, einen „Zwei- bzw. Drei-Frontenkrieg“ zu führen! Dabei zeigte sich, daß die vorhergehende Ausschaltung Walter Brands fatale Folgen für das innerparteiliche Gleichgewicht hatte, denn sie ermöglichte es Karl Hermann Frank (sh. Bild links), dem späteren Sprecher des „Aufbruchkreises“, im Parteiapparat aufzusteigen. Dieser Kreis hatte sich um eine Zeitschrift namens „Aufbruch“ (sh. Bild unten) geschart und stand in Opposition zum KB. Er tendierte ideologisch „zum Reich“ und hatte Verbindungen zu mehreren emigrierten Mitgliedern der verbotenen DNSAP/DNP (z.B. Krebs und Jung, Krebs=Pressesprecher bei Frick!). Diese verfolgten das Ziel, die SHF/SdP von Berlin aus fernzusteuern. Dafür standen auch Finanzmittel zur Verfügung, die über Karl Hermann Frank vermutlich der ganzen SdP zu gute kamen. Hinter den sudetendeutschen Emigranten stand die „Prinz-Heinrich-Straße“ (Himmler/Heydrich) mit SS und SD; dazu alle einschlägigen Hilfsorganisationen und Querverbindungen. Im Reichssicherheitshauptamt bestand seit 1935 ein Sonderkommando mit dem Auftrag, den „Spannkreis“ zu bekämpfen (!). Die Leitung hatte der SS-Sturmbannführer Samersky (Becher, S. 103). Dazu gesellte sich die Volksdeutsche Mittelstelle (VOM), deren Leiter, SS-Gruppenführer Behrend, schon 1934 geäußert hatte, daß die SHF für ihn erst dann existiere, wenn die Mitglieder der beiden verbotenen Parteien im SHF- Vorstand verankert seien. Begleitet wurde das von offenen Angriffen gegen den KB im „Völkischen Beobachter“ (9.4.1935), in „Das Schwarze Korps“ (26.6.1935) oder 1938 in „Volk im Werden“ (Nr. 6). Man warf Henlein vor, mit den Autonomieplänen aus der Volksgemeinschaft ausscheren zu wollen und die “Verschweizerung” der Sudetendeutschen zu planen. Außerdem führe die SHF nur einen Volkstums- und keinen nationalsozialistischen Weltanschauungskampf. Das war auch einer der Gründe, daß nach 1938 nur rund 500.000 der 1,3 Millionen Mitglieder der SdP in die NSDAP übernommen wurden.

Im Jahre 1936 konnte der Aufbruchkreis und damit Berlin einen ersten größeren Erfolg verbuchen. Da man sich an Henlein selbst nicht herantraute, eliminierte man seine wichtigsten Mitarbeiter. Zielscheibe war wieder Dr. Walter Brand, Inhaber der Mitgliedskarte Nr. 3. Er wurde 1936 von einem aufbruchhörigen Parteigericht wegen einer Geringfgigkeit der Unehrenhaftigkeit geziehen. Henlein war wütend und erreichte die teilweise Revision des Urteils. Dennoch erschien Dr. Brand als irgendwie beschädigt und wurde als Korrespondent der „Zeit“ nach London entsandt. Da Henlein sehr auf die „englische Karte“ gesetzt hatte, mag dies in seinen Augen sogar eine gute Lösung gewesen sein. Vor Ort in Asch fehlte Dr. Brand jedoch als KB-Mann. (Erläuterung zur Zeitung „Zeit“: Sie gehörte Henlein und war dessen einzige Einkommensquelle, siehe Bild links!).

Henlein sucht Schutz
Der Weggang Dr. Brands schwächte Henlein. Das alles blieb der reichsdeutschen Opposition hoher Offiziere gegen Hitler nicht verborgen. Der ihr nahestehende Chef der deutschen Abwehr, Admiral Canaris, übernahm es, Henlein abzuschirmen, was allerdings nur unter großen Schwierigkeiten gelang (Bürger, S.191). Eine Schlüsselrolle spielte OLtn. Groscurth (siehe Foto rechts), der Henlein vor allem im September/Oktober 1938 zur Seite stand. Sein Tagebuch über diese Zeit ist für uns von unschätzbarem Wert. Verständnis fand Henlein auch bei Dr. Steinacher, dem Vorsitzenden des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA). Mit ihm hatte sich Henlein schon im April 1934 heimlich im Riesengebirge getroffen. Dr. Steinacher teilte Henleins Ansichten, begab sich damit aber in Opposition zu SS und SD, was ihn später, im Oktober 1937, sein Amt kostete. Nichtsdestoweniger flossen Unterstützungsgelder für Henlein auch über Steinachers Dienststelle.
Henlein hatte aber noch ein zweites Eisen im Feuer. Das waren die Kontakte zu den Briten, wo sich Captain Malcolm Christie seiner annahm. Christie war Leiter eines ausgedehnten Agentennetzes in Deutschland und arrangierte im Dezember 1935 Henleins ersten offiziellen Besuch in London. Auch Henleins Rede im Chatham House hatte Christie möglich gemacht. Henlein strahlte so viel Glaubwürdigkeit aus, daß die Briten sagten, warum schicken uns die Deutschen nicht mehr solche Männer herüber.
Die Ernte fuhr dann Heinz Rutha, Henleins „Außenminister“, im Februar 1937 ein. Er weilte in London und erhielt von Sir Robert Vansittart, dem Chefberater des F.O., das Hilfeversprechen für die Autonomielösung innerhalb der CSR-Grenzen.

Henlein hatte persönliche Kontakte zu britischen Diplomaten früher als zu Hitler, der sich für die Sudetenfrage allerdings auch lange gar nicht interessierte. Erst 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin hat er Henlein kurz die Hand geschüttelt.

Zweigleisigkeit nach stürmischem Herbst 1937
Eine Kette von Rückschlägen traf Henlein im Herbst 1937. Im Reich verlor Dr. Steinacher, einer seiner wichtigsten reichsdeutschen Vertrauten, sein VDA-Amt. Zu Hause wurde Heinz Rutha (sh. Bild links), Henleins zweitwichtigster Mitarbeiter und Träger der SHF-Mitgliedskarte Nr. 2, verhaftet. Die Anklage lautete auf homoerotische Beziehungen. Rutha nahm sich in der Zelle das Leben. Die Denunzianten werden im Umfeld von Heydrich vermutet. Henlein fiel es jetzt noch schwerer, seinen Autonomiekurs in der Partei zu verfechten, zumal Dr. Brand in London weilte. Es kam aber noch schlimmer. Prag hielt die Februar-Abmachungen über mehr Arbeitsplätze nicht ein, was die Massen bewegte und erzürnte. Dann kam es am 17. Oktober 1937 zum Zwischenfall in Teplitz-Schönau, bei dem Karl-Hermann Frank, obwohl Abgeordneter, von tschechischen Polizisten festgehalten und misshandelt wurde. Der Fall wurde ziemlich aufgebauscht und diente der csl. Regierung als Vorwand, die längst fälligen Gemeindewahlen erneut bis Mai 1938 zu verschieben. Henlein steckte in einer Krise und sah nur einen Ausweg. Er musste zweigleisig fahren und Hitler um Unterstützung bitten. Das tat er in einer Denkschrift von zehn Seiten am 19.11.1937. Gleichzeitig ließ er aber die Fäden nach England und zur Canaris-Gruppe nicht abreißen. Zur Denkschrift für Hitler ist zu sagen, daß sie der Öffentlichkeit überhaupt erst 1951 bekannt wurde, als die Akten der Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) veröffentlicht wurden. Fraglich ist außerdem, ob sie Hitler jemals zu Gesicht bekommen hat.

Der „Anschluß“ Österreichs und die Teilmobilisierung
Am 12. März 1938 erfolgte der „Anschluß“ Österreichs. Die Sudetendeutschen fühlten sich ermutigt und schraubten (ermuntert durch Hitler) ihre Forderungen nach oben. Ausdruck dessen war das Karlsbader Programm vom 24. April 1938 (sh. Bild rechts). Es enthielt sogar mit Punkt 6 die Forderung nach Wiedergutmachung der wirtschaftlichen Schäden. Es fehlte aber immer noch die Forderung nach Loslösung der Sudetengebiete von der CSR. Vier Wochen später, am 22. Mai 1938, fanden die Gemeindewahlen statt. Für Henleins Partei stimmten 90 Prozent der Sudetendeutschen. H. Rönnefarth interpretiert diese Wahlen in seinem Buch „Die Sudetenkrise in der internationalen Politik (S. 303) sogar als Votum der Sudetendeutschen für das Autonomieprogramm, weil das Karlsbader Programm immer noch keine Abtretungsforderung enthalten hatte. Auf der gleichen Linie argumentierte Churchill am 5. Oktober 1938 im Britischen Unterhaus. Er be- schuldigte Chamberlain, die Mai-Wahlen falsch gedeutet zu haben. Die Sudeten- deutschen hätten nur über eine Verbesserung ihrer Stellung in der CSR ab- gestimmt und nicht über den Anschluß an das Reich. Dabei berief sich Churchill auf Äußerungen Henleins selbst ihm gegenüber (Hans Meiser, S. 431).
Der neuerliche Wahlerfolg Henleins war umso bemerkenswerter, als er unter dramatischen Umständen zustande gekommen war. Einen Tag vor der Wahl hatte Benesch seine Armee gegen einen angeblich geplanten deutschen Angriff teilmobilisiert. Tatsächlich ging es aber um die Einschüchterung der sudetendeutschen Wähler und um den Wunsch Prags, aus dem innerböhmischen Konflikt ein internationales Kräftemessen zu machen. Das Stichwort dazu hatte Churchill am 12.April 1938 gegeben. Er sah die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Eingreifens Deutschlands nur bei 50:1 und riet deshalb Benesch, selbst einen Krieg “hervorzurufen” (Kral, 1968, S. 117). Die Wünsche der Sudetendeutschen drohten von jetzt an noch nebensächlicher zu werden. Aber gerade deswegen schickte Henlein Dr. Brand am 25. Mai 1938 erneut nach London, um das Autonomie-Konzept zu vertreten (Brand, S. 138).

Wieder stand Malcolm Christie im Hintergrund. Dr. Brand wurde in der britischen Hauptstadt von diesem schon erwartet und sofort zu Sir Robert Vansittart (Bild links), dem Hauptberater des britischen Außenamtes, gebeten. Vansittart widmete dem sudetendeutschen Emissär viel Zeit und wollte genau wissen, ob die Autonomielösung noch aktuell sei. Dr. Brand bejahte weisungsgemäß. Vansittart wollte aber ganz sicher gehen und bat Dr. Brand, sich das in Asch noch einmal telefonisch bestätigen zu lassen. Dr. Brand hat daraufhin mehrere nächtlichen Telefonate geführt und die Bestätigung bekommen. Diese Auskunft spielte in den nächsten Wochen für die britische Regierung eine wichtige Rolle. Nev. Chamberlain hatte nämlich im April 1938 sowohl Berlin als auch Prag aufgefordert, klare Ziele zu nennen. Da die Antworten aber ausblieben, übernahm er das Ziel der Autonomie-Lösung für die britischen Außenpolitik und hielt daran rund zwei Monate fest (Rönnefarth, S. 343 ff.).

Letzte Versuche

Das war ganz im Sinne Henleins, und dieser bekräftigte in der Folge noch mehrmals sein Autonomieziel. Zunächst betonte er am 18. August 1938 im Gespräch mit Lord Runciman erneut, daß die Autonomie und nicht die Zerstörung der csl. Staatsgrenzen sein Ziel sei. Das Protokoll über dieses Gespräch führte der Brite Gwatkin und kann in den Büchern von Anneliese von Ribbentrop nachgelesen werden (auch: DBFP <Doc.Brit.For.Pol.> II, p. 656). Auch am 2. September 1938 trug Henlein bei Hitler unwidersprochen seinen Autonomieplan vor, und einen allerletzten Versuch machte er sogar noch nach seiner Flucht „ins Reich“, als er Dr. Brand noch einmal nach London schickte. Freilich war es jetzt längst zu spät. Henlein hatte die Mehrheit seiner Partei nicht mehr hinter sich, und im September 1938 hatte sich Grobritannien schon für die Abtretung entschieden, wie es durch den berühmten Times-Artikel vom 7. September 1938 zum Ausdruck gebracht wurde. Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, da es Henlein noch wenige Wochen vor dem Münchner Abkommen nicht um die Zerschlagung der CSR, sondern um eine innerstaatliche Lösung ging, natürlich auch aus Sorge um den Frieden.
Ein besonders guter Zeuge für den Autonomiewunsch Henleins ist R. Lodgman von Auen. Er entschuldigte sich im Oktober 1938 in einem langen Schreiben an Hitler für seine Distanz zu Henlein und begründete sie exakt mit dessen Absicht, die Sudetendeutschen vom deutschen Volkskörper fernzuhalten und sie in einer kantonisierten CSR zu „verschweizern“.

Freie Fahrt für NS-Ideologen
Nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens drangen im Kielwasser des Heeres SS und Sicherheitsdienst völlig ungeniert in das Sudetenland ein. Sie besaßen Fahndungsbücher und verbreiteten blankes Entsetzen, als sie rund 200 bewährte Kampfgenossen Henleins verhafteten. Ihnen wurde Nähe zum Kameradschaftsbund und damit ein kritisches Verhältnis zum NS zur Last gelegt. Die Heeresleitung unterband diese Aktionen nach Protesten Henleins unverzüglich. Hilfreich war dabei die Anwesenheit OLtn. Groscurths. Sein Tagebuch unterrichtet uns über unzählige Einzelheiten aus dieser Zeit und  wurde 1970 von seiner Familie herausgegeben, nachdem der Verfasser 1943 in russischer Gefangenschaft verstorben war.
Im März 1939, nach Errichtung des Protektorats, kam es erneut zu Maßnahmen gegen missliebige Henlein-Anhänger. Dr. Walter Becher, der spätere SL-Sprecher, berichtet, daß „ganze Hundertschaften“ ehemaliger Mitglieder der sudetendeutschen Jugendbünde in ein Dresdner Gefängnis geworfen wurden, darunter auch er selbst (Brand, S. 47 f. u.a.). In Verhören wollte man aus ihnen Geständnissen über gleichgeschlechtliche Vorkommnisse im KB herauspressen. Die Ausbeute war mager. Es kam nur zu drei Verurteilungen. Eine vierte betraf Dr. Walter Brand, der auf Anraten des wohlmeinenden Gerichtspräsidenten ein Geständnis abgelegt hatte, um den Fängen der Gestapo zu entkommen. Aber auch das half nicht, denn nach Absolvierung einer kurzen Gefängnishaft steckte ihn die SS für sechs Jahre ins KZ.  (Das KZ lernte brigens auch Prof.Heinrich kennen. Unter welchem Vorwand, ist allerdings unbekannt). Diese Tatsachen verdienen breiteste Beachtung, denn Dr. Brand gehörte zu den maßgeblichen Gründungsmitgliedern des Witikobundes. Wie unerbittlich Heydrich den KB bekämpfte, sah man am 14. Jänner 1940. An diesem Tage erschienen in Reichenberg Flugblätter gegen Henlein und zwei Tage später unappetitliche Hetzartikel in der SS-Zeitung „Das Schwarze Korps“. Es hieß darin, Henlein hätte die Jugendverderber des KB gedeckt. Leider hat Henlein in dieser Stunde völlig versagt. Anstatt sich mutig vor seine Gefährten zu stellen, unterzeichnete er ein von Heydrich entworfenes und extrem demütigendes Schriftstück, wonach das Sudetenland homosexuell verseucht gewesen sei! Als Heydrich 1942 starb, soll Henlein zu Friedrich Bürger (sh. Bild rechts), seinem Residenten in Berlin, gesagt haben: „Dies ist der schönste Tag meines Lebens“ (Bürger, S. 193).

Schluß
Henlein wurde viele Jahrzehnte lang als bösartiger Nationalsozialist diffamiert, dessen Hauptziel die Schleifung der “böhmischen Zitadelle” gewesen sei. Dies schien auch die 1951 bekannt gewordene Denkschrift für Hitler vom 19. November 1937 zu bestätigen. Als 1970 aber das Tagebuch OLtn. Helmuth Groscurths und bald darauf der Nachlass Captain Malcolm Christies bekannt wurden, musste ein Umdenken einsetzen. Henlein war fast bis zur letzten Minute Autonomist und war nur durch die Umstände gezwungen, zweigleisig zu fahren. Seine Verbindungen zu den Briten und zur reichsdeutschen Opposition hat er bis 1938 gepflegt. Die Begeisterungswelle für den Anschluß konnte er 1938 aber nicht mehr beeinflussen. Für ihn gilt, was schon Bismarck wußte: unda fert, nec regitur (Die Welle trägt und kann nicht gelenkt werden).

Literatur:
Becher, Dr. Walter, Zeitzeuge, Mnchen 1990; Brand, Dr. Walter, Sudetendeutsche Tragdie, Lauf 1947; Brger, Friedrich, Rezension, Tagebcher eines Abwehroffiziers, in: Sudetendeutscher Erzieherbrief, Dez. 1972, S. 190 ff.; Groscurth, Helmuth, Tagebcher eines Abwehroffiziers, Stuttgart 1970; Kral, Vaclav, Die Deutschen in der Tschechoslowakei 1933-47 (Dokumentensammlung), Prag 1964; ders. Das Abkommen von München 1938, Dokumente, Prag 1968; Meiser, Hans, Die Tschechen als Kriegstreiber, Tübingen 2011; Rönnefarth, H., Die Sudetenkrise in der internationalen Politik, Wiesbaden 1961

 

Nachwort: Henleins Rede vom März 1941 ist dem Autor bekannt, hat aber als Erklärung ex eventu keine Bedeutung.