Die Legende von der tschechoslowakischen Musterdemokratie

Mittwoch,7.November2012 von

In vielen Geschichtsbüchern wird die CSR der Zwischenkriegszeit als „Insel der Demokratie“ gerühmt. Die Errichtung des Protektorats 1939 habe dieses „Paradies“ zerstört. Verschwiegen wird dabei aber stets das Eingeständnis Dr. Beneschs selbst, zu dem er sich am 25. August 1938 während der Verhandlungen mit den Abg. Kundt und Dr. Sebekovsky hinreißen ließ (ADAP, S. 513): Der Staat ist keine Musterdemokratie, sondern eine Diktatur der Regierungsmehrheit über die Opposition und eine Diktatur der nationalen Mehrheit über die andersnationalen Gruppen. Der Staat ist heute dadurch eine Art pseudoautoritärer Staat und keine Demokratie.

Etwas eleganter drückte das der csl. Ministerpräsident Hodza am 19.9.1937 aus, als er von einem „neuen Typ von Demokratie“ sprach: „Es ist die disziplinierte Demokratie, die Demokratie der geordneten Freiheit, die sich zur gesetzlichen und moralischen Autorität bekennt.“ (HABEL, S.361)

Wie sich diese disziplinierte Demokratie darstellte, kann die folgende Aufzählung zeigen.

Nationalversammlung, revolutionäre: Sie konstituierte sich 1918 ohne Wahlen und bestand nur  aus Tschechen und wenigen Slowaken. Die Sudetendeutschen waren von der Mitarbeit an der neuen Staatsverfassung und den etwa 300 ersten, für sie oft nachteiligen Gesetzen ausgeschlossen. Sie wurden behandelt als gehörten sie nicht zum Demos. Wirkliche Demokraten treten jedoch für die ungeschmälerten Rechte aller Bevölkerungsteile ein. Unter allen Nachfolgestaaten der Monarchie zögerte die CSR allgemeine Wahlen am längsten hinaus. Auch hielt es die Nationalversammlung für überflüssig, den „Souverän“ (§ 1) über die von ihr beschlossene Verfassung abstimmen zu lassen.

Wahlkreisgeometrie: Der Zuschnitt der Wahlkreise ging in der Regel zu Lasten der Sudetendeutschen. Sie benötigten für ein Mandat im Durchschnitt knapp 20 Prozent mehr Stimmen als die Tschechen (47.716 gegen 39.957). Noch schlechter gestellt waren die Magyaren, bei denen erst auf 109.847 Wähler ein Parlamentssitz entfiel (PLEYER, S.155). Besonders begünstigt war in Prag der Wahlkreis A, der nur von 22.100 Wählern bewohnt war. Praktische Folgen hatte das bei der Wahl vom 19. Mai 1935, als die SdP Henleins 73.000 Stimmen mehr auf sich vereinigen konnte als die stimmstärkste tschechoslowakische Partei (Agrarier) und dennoch einen Sitz weniger als diese zugesprochen erhielt. Völlig unabhängig vom Wahlergebnis waren für die Legionäre in der ersten Legislaturperiode vier Parlamentssitze reserviert, was der weiteren Absicherung tschechischer Interessen diente.

Soldatenwahlrecht: Soldaten der tschechoslowakischen Armee hatten in ihren jeweiligen Garnisonsorten volles Wahlrecht. Durch Verlegung tschechischer Regimenter (Wahlbataillone) in Orte mit knapper deutscher Mehrheit konnten diese politisch erobert werden (HASSINGER, S. 169 ff.). Erst nach zähen Verhandlungen gelang es den deutschen Parteien in der zweiten Wahlperiode, diesen Mißstand abzustellen (LUKASCH, S.244). Die Soldaten der österreichischen Armee hatten während ihrer Dienstzeit kein Wahlrecht.

Wahlperiode: Die Verfassung der CSR gestattete dem Wahlvolk einen Urnengang nur alle sechs Jahre. Dazu wurden die 1937 fälligen Gemeindewahlen um ein halbes Jahr verschoben, so daß die Gemeindeparlamente schon längst nicht mehr den Volkswillen widerspiegelten. Insbesondere die 1935 bei den Landeswahlen so erfolgreiche Sudetendeutsche Partei war weiter von der Mitwirkung ausgeschlossen.

Revers-Demokratie: Die tschechischen Abgeordneten mußten bei Annahme ihres Mandats für den Fall der Unbotmäßigkeit eine Blanko-Rücktrittserklärung unterschreiben (SANDER 1935, mit Text des Revers, S. 110; LIPSCHER, S. 113; MENZEL, S. 64;). Abhilfe schuf auch das Wahlprüfungsgericht nicht, denn dessen Besetzung gehörte wohlweislich auch zu den Befugnissen des Parlaments (Gesetz vom 29.2.1920, SANDER 1935, S. 97 ff.).  Zur Ehre der Tschechen muß man aber sagen, daß es 1929 eine Partei gegen das „gebundene Mandat“ gab. Für sie zog u.a. Karel Pergler ins Parlament ein, wurde aber wieder herausgedrängt, als er eine Untersuchung über die Herkunft der Vermögen von Benesch und Masaryk beantragte (Krystlik, Verschwiegene Geschichte, S. 74).

Petka: Die eigentlichen politischen Entscheidungen fielen in einem Petka genannten Koalitionsausschuß, der in der Verfassung nicht vorgesehen war, aber dank der o.g. “Reversdemokratie” verbindliche Beschlüsse fassen konnte.

Ermächtigungsgesetz: Das (verfassungswidrige) Ermächtigungsgesetz vom 9.6.1933 wurde mehrmals, zuletzt im Jahre 1936, verlängert und führte zu einer Art Präsidialdiktatur.

Parteienauflösungsgesetz: Das Parteienauflösungsgesetz vom 25.10.1933 wurde mehrmals, zuletzt 1936, verlängert und schloß den ordentlichen Rechtsweg aus. Damit ordnete sich die CSR in die Reihe der autoritären Staaten ein (SANDER 1936, S. 188).

Verbot von Wahrheitsbeweisen: Das Gesetz zum Schutze der Republik wurde 1923 erlassen und unterband jede Kritik am Staatsoberhaupt. Selbst im Falle lügnerischer Anschuldigungen waren Wahrheitsbeweise untersagt. Das galt auch vor Gericht. Das für eine Demokratie unabdingbare freie Ringen um Wahrheit war in der CSR unterbunden.

Meinungsfreiheit: Nachdem sich schon das Parlament durch das gebundene Mandat (Revers-Demokratie!) entmündigt hatte, schaltete die Regierung nach und nach auch die Kontrolle durch die Presse aus.  Einschneidend war das Gesetz zum Schutz der Republik vom 19.3.1923, das sogar verbot, die Entstehung des Staates darzustellen! Besonders scharf wurden sudetendeutsche Zeitungen zensiert. Verbotene Artikel wurden von diesen aber nicht ersetzt, so daß die Zahl der weißen Stellen im Zeitungsbild ein Maß für ihre oppositionelle Gesinnung war. Grundlage für die Zensur war eine 1933 beschlossene Novelle zum Gesetz über außerordentliche Maßnahmen aus dem Jahre 1920. Eine weitere Verschärfung brachte ein im Juni 1934 angenommenes Pressegesetz. Der Zensur unterlagen auch zahlreiche Bücher, besonders solche „aus dem Reich“, aber auch der „Schwejk-Roman“ von Jaroslav Hasek (!). Hunter Millers deckte 1935 auf, daß das von Benesch 1919 vor der “Kommission für die Neustaaten” gegebene Versprechen, eine “zweite Schweiz” zu errichten, in der CSR immer noch unterdrückt wurde (“Diary”, Band XIII; sh. auch PRINZ, S, 96 f.). Empfang von Radiosendungen aus Deutschland war während des Ausnahmezustandes 1938 verboten.

Staatsverteidigungsgesetz: Das Staatsverteidigungsgesetz vom 13. Mai 1936 betraf 55 grenznahe Bezirke und damit 86 % der Sudetendeutschen. Diese konnten auf dem Verwaltungswege und unter Ausschluß des ordentlichen Rechtsweges  als staatlich unzuverlässig eingestuft und von gewissen Rechten ausgeschlossen werden, was u. a. ein Verstoß gegen die von der Verfassung geforderte Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Staatsgebietes war (SANDER 1936, S. 102 f.). Auf dieses und andere Gesetze  reagierte die politische Polemik mit der Wortschöpfung Kabinettsjustiz.

Gewaltenteilung: Ermächtigungsgesetz, Parteienauflösungsgesetz, Staatsverteidigungsgesetz, aber auch „Petka“ unterliefen die in der Verfassung vorgesehene Gewaltenteilung. Bezeichnend für die Stellung der CSR-Justiz war, daß die Richterstellen des Verfassungsgerichts seit 1931 vakant waren (SANDER 1936, S. 176).

Selbstverwaltung: Auf Gemeindeebene wurde die Selbstverwaltung systematisch beschnitten. Genannt seien nur die Verstaatlichung der Gemeindepolizei und des Schulwesens sowie die Kontrolle über die Gemeindebibliotheken, wobei den Gemeinden aber jeweils die Kosten blieben. In den Finanzkommissionen der Gemeinden wurde die Hälfte der Mitglieder nicht gewählt, sondern „von oben“ ernannt, auf Bezirks- und Landesebene ein Drittel der Abgeordneten. Demokratisch gewählte Bürgermeister mußten erst von der Regierung autorisiert werden. Der Staat konnte Gemeinde- oder Bezirksgrenzen neu  bestimmen, wodurch es bis 1929 gelang, alle 14 zunächst deutschen Bezirke in größere, gemischtnationale Verwaltungseinheiten mit tschechischer Mehrheit zu überführen. Diese Maßnahme sollte nicht nur deutschen Einfluß zurückdrängen, sondern nachträglich auch das im Memoire III gezeichnete Bild vom zerrissenen Lebensraum der Sudetendeutschen bestätigen (HASSINGER, S. 176 f. und FRANZEL, S. 78 f.).

Bodenreform: Das Amt für Bodenreform unterlag keiner demokratischen Kontrolle und war mit außerordentlicher Machtfülle ausgestattet. Tonangebend waren die tschechischen Agrarier und die Nationalen Sozialisten. Nach deutschen Mitarbeitern suchte man in der Behörde vergebens, obwohl meist über deutsches Eigentum entschieden wurde.

Kritische Stimmen: Das Zentralorgan der tschechischen Sozialdemokraten PRAVO LIDU bezeichnete am 23.12.1919 das tschechische Parlament als Diktatur der tschechischen Parteien (PRERADOVICH, S. 66). ADDISON schrieb bereits 1934 vom tschechischen Polizeistaat (Franke, S. 217). MASARYK (S. 13) scheint nicht ahnungslos gewesen zu sein, als er sagte: Die Demokratie hätten wir, jetzt brauchen wir noch Demokraten.  Stefan OSUSKY (tschechoslowakischer Botschafter in Paris, + 1973 in Washington) stellte fest, daß Benesch schon vor 1938 elementare Regeln der Demokratie mißachtet habe. Emil FRANZEL (S. 80) hält die CSR für eine Formaldemokratie hinter der sich die nationale Diktatur der Tschechen verbarg. F. SANDER (1936, S. 193) reiht die CSR nach Verabschiedung des Staatsverteidigungsgesetzes in die Gruppe der autoritären Staaten ein. Sir Thomas MOORE sagte 1938 im britischen Unterhaus: Wie ich die Demokratie verstehe und sie Abraham Lincoln verstand, ist sie eine Regierung der Mehrheit eines Volkes im Interesse des ganzen Volkes. Wenn das richtig ist, dann herrschte die Demokratie nicht in der Tschechoslowakei. Das entspricht der Definition, die Thukydides (454-399) Perikles (492-429) in den Mund gelegt hat: ”Der Name mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.”  J. KALVODA (S. 196) berichtet, daß sich Benesch nach Ansicht vieler Zeitzeugen auch im Exil wie ein selbsternannter Diktator verhielt. Die Mitglieder seiner provisorischen Regierung ließ er nicht von den Parteien auswählen, sondern bestimmte sie selbst. 1941 ließ er beschließen, daß ein Mißtrauensvotum gegen ihn niemals beantragt werden dürfe.

 

Schlußbemerkung: Palacky hielt die Tschechen „seit uralten Zeiten für demokratisch gesinnt“, Deutsche hingegen für obrigkeitshörig. Wenn dem so wäre, hätte das tschechisch Volk 1938 nach der Abtrennung des Sudetenlandes und erst recht 1946 nach der Vertreibung der Sudetendeutschen zu wahren demokratischen Höhenflügen ansetzen müssen. Statt dessen baute man in der 2. Republik (1938-1939) das Mehrparteiensystem in ein Zweiparteiensystem um und schlitterte 1946 in die kommunistische Diktatur. Wie aber dargestellt, lagen die Wurzeln dafür schon in der 1. Republik, in der Em.Radl treffend Elemente des „aufgeklärten Absolutismus“ erkannte.

Grundsätzlich ist aber festzustellen, daß die bloße Einhaltung demokratischer Formen (Fassadendemokratie!) noch keinen Schutz vor Ungerechtigkeiten, insbesondere in einem Vielvölkerstaat, bietet. Palackys Zeitgenosse John Stuart MILL hat deswegen die Demokratie gerade für ethnisch gemischte Gebilde direkt abgelehnt. Zur Lösung dieses  Dilemmas hatte Karl RENNER 1899 eine Art “ethnischen Föderalismus” vorgeschlagen, der weniger auf dem Territorialprinzip als auf dem Personalitätsprinzip beruhen sollte. Er dachte an die Schaffung von “kulturellen Nationalverbänden”, denen er neben der kulturellen auch die Steuerautonomie zusprechen wollte. Bekannt wurden seine Ideen als “MÄHRISCHER AUSGLEICH”,  der zwei nationale Wählerlisten, die sogenannten Nationalkataster, vorsah. Tschechische Nationalisten warfen den Mährern daraufhin nationalen Verrat vor. Tatsache war jedoch, daß in Mähren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nationaler Friede herrschte.

Diese Erfahrung sollte die Welt zur Nachahmung ermutigen, anstatt sich mit Churchills zynischem Wort zu begnügen „Die schlechteste Regierungsform ist die Demokratie – mit Ausnahme aller anderen.“

 (von Friedebert Volk)

Quellen:

ADAP (Akten zur deutschen auswärtigen Politik) S.D. Bd. II Dok 398, Anl. 2; FRANZEL, Emil, Die Sudetendeutschen, München 1980; HASSINGER, Hugo, Die Tschechoslowakei, 1925; JAKSCH, W., Wir heischen Gehör, 1947; KALVODA, Josef, Czechoslovakia`s Role in Soviet Strategie, Washington 1978; HABEL, Fritz-Peter, Dokumente zur Sudetenfrage, München 2003; LIPSCHER, Ladislav, Verfassung und politische Verwaltung in der CSR 1918-1939, München 1979; MASARYK, T.G., O democracii (Über Demokratie), hrsg.von Koloman Gjan, Prag 1991; MENZEL, Wolfg., 90 Jahre Kampf um Selbstbestimmung, in: Festschrift zum 22. Sudetendt. Tag 1971 in Nürnberg; PLEYER, Wilh., Europas unbekannte Mitte, München-Stuttgert 1957; PRERADOVICH, Nic. von, Die Tschechoslowakei von 1918 bis 1992); PRINZ, Friedrich, Geschichte Böhmens; RÖNNEFARTH, Helmuth, Die Sudetenkrise in der internationalen Politik, Wiesbaden 1961; SANDER, Fritz, Verfassungsurkunde und Verfassungszustand der Tschechoslowakischen Republik, Brünn, 1935; derselbe, Das Staatsverteidigungsgesetz und die Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik, Brünn, 1936